Nervenkrieg am ersten Schultag

Quelle: Spiegel.de / http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,316147,00.html

Der Schulanfang nach den Sommerferien sollte ein Festtag für die Kinder in der südrussischen Stadt Beslan werden - er wurde zum Alptraum. Tschetschenische Rebellen halten seit dem Morgen hunderte Kinder, Eltern und Lehrer in ihrer Gewalt. Am Abend begannen Verhandlungen.

AP

Beslan/Moskau - Mit weißen Blusen, Geschenken und Blumen für die Lehrerinnen standen die Kinder heute bei strahlender Sonne auf dem Hof der Schule "Nummer eins". Zahlreiche Eltern waren mit dabei, denn der erste Schultag wird in Russland traditionell feierlich begangen.

Es sieht nach einem wundervollen Tag aus, doch gegen 10 Uhr Ortszeit donnert plötzlich ein schwerer Armeelastwagen auf das Schulgelände. Zwei Dutzend maskierte Terroristen springen mit Maschinenpistolen, Sprengstoffgürteln und Granatwerfern von der Ladefläche.

Zuerst glauben einige Schüler an eine Art Spiel. "Wir standen neben dem Schultor beim feierlichen Apell, Musik wurde gespielt", berichtet später der etwa 14-jährige Saurbek Zumartow im russischen Fernsehen. "Drei Männer mit Maschinenpistolen tauchten auf. Ich dachte erst an einen Scherz. Als in die Luft geschossen wurde, rannten wir los." Insgesamt etwa 50 Kindern gelingt es, sich zu verstecken und später vom Schulgelände zu flüchten.

Schüler, Eltern und Lehrer werden von den Terroristen in die Turnhalle getrieben. Sie drohen, die Halle in die Luft zu sprengen, wenn die Polizei das Gebäude stürmt. In der Halle herrschen Angst und Verzweiflung. Die Terroristen fordern von einigen Kindern, sich in die Fenster zu stellen - als lebende Schutzschilde. So sollen die Kleinen Angriffe der Polizei verhindern. Die Terroristen zwingen alle anderen, sich auf den Hallenboden zu legen, wie es in einem Bericht des Einsatzstabes heißt. Zwischen den Geiseln lägen so genannte Schwarze Witwen, in Schwarz gekleidete Terroristinnen, mit Sprengstoffgürteln am Körper.

Das Wachpersonal der Schule leistet zunächst Widerstand, es fallen Schüsse. Einige Geiseln sterben, es sollen vier Eltern und Lehrer sein. Bis zum Nachmittag gibt es acht Tote - einige Verletzte sind im Krankenhaus gestorben. Augenzeugen berichten, sie hätten den ganzen Tag über vereinzelt Schüsse gehört. "Jeder Gewehrschuss, den ich höre, ist wie ein Schuss in mein Herz", schluchzte eine Frau. Ihr Kind sei unter den Geiseln.

Die Stadt Beslan befindet sich etwa 30 Kilometer nördlich von Wladikawkas, der Hauptstadt Nord-Ossetiens, das an die Konfliktrepublik Tschetschenien grenzt Es beginnt ein zermürbender Nervenkrieg. Vor dem Gelände bauen sich "Omon"-Einsatztruppen des Innenministeriums auf.


Wie viele Menschen genau in der Hand der Geiselnehmer sind, bleibt lange unklar. Am Nachmittag heißt es zunächst, die Täter hätten 15 Kinder freigelassen - das wird später von offizieller Seite dementiert. Um Klarheit zu bekommen, erstellen die Behörden Listen mit den Namen vermisster Bürger der Stadt. Am Abend meldet die Nachrichtenagentur Itar-Tass, es befänden sich insgesamt rund 300 Menschen in der Gewalt von etwa 17 Entführern. Unter den Geiseln seien 132 Kinder, die übrigen seien Eltern und Lehrer.

Die Rebellen warnen die Sicherheitskräfte vor Angriffen. Sie drohen, für jeden getöteten Kämpfer 50 Kinder zu töten, für jeden verletzten Mitstreiter 20. Besorgte Väter und Mütter älterer Schüler stehen vor dem Schulgebäude der Kleinstadt Beslan mit ihren 35.000 Einwohnern. Noch am Morgen hatten sie ihre Kinder arglos daheim verabschiedet. Polizisten halten die Eltern zurück. Rund um das Gebäude wird eine Absperrung errichtet.

Von Beslan sind es 50 Kilometer bis nach Tschetschenien, wo seit zehn Jahren ein Krieg zwischen Rebellen und russischer Armee tobt. Der blutige Nachbarkonflikt warf auch früher schon seinen Schatten auf die Stadt. Vor sechs Jahren entführten Terroristen einen Bus mit 40 Menschen in Beslan. Erst nach langen Verhandlungen wurden die Geiseln freigelassen.

Das jüngste Geiseldrama ist für viele ein Schock. Noch nie hatten es Terroristen so zielgerichtet auf Kinder abgesehen. "Es sind so viele kleine Kinder unter den Geiseln, Erst- und Zweitklässler", beklagt ein Polizeisprecher.

Schule "Nummer eins" in Beslan: Wie viele Geiseln festgehalten werden, ist unklar Die Kidnapper fordern Itar-Tass zufolge, dass zahlreiche in der Nachbarprovinz Inguschetien inhaftierte tschetschenische Rebellen auf freien Fuß gesetzt werden und dass die russischen Truppen aus Tschetschenien abziehen.

Zudem verlangen sie nach dem bekannten russischen Kinderarzt Leonid Roschal, der sich schon während der Besetzung eines Moskauer Musicaltheaters vor zwei Jahren um die Geiseln kümmerte. Am Mittag machte er sich von Moskau aus auf den Weg in die abgelegene Stadt. Er wird als Verhandlungspartner neben dem nord-ossetischen Präsident Alexander Dsasochow und dessen inguschischem Kollegen Murat Sjasikow gefordert.

Am Abend begannen die Verhandlungen - Einzelheiten dazu sind bisher nicht bekannt. Der Regionalleiter des Inlandsgeheimdienstes FSB, Waleri Andrejew, sagte dem Fernsehsender NTW, die Verhandlungen stünden noch "ganz, ganz am Anfang". Der kurze Kontakt lasse noch keine Schlüsse auf die Lage in der Schule zu.

Das muslimische Oberhaupt der Teilrepublik Nordossetien versuchte am Nachmittag vergeblich, mit den Eindringlingen in der Schule zu verhandeln. "Kinder sind das saubere, unschuldige Werk des Höchsten Allah", ruft der Mufti den Terroristen zu. Doch bei den Geiselnehmern, allem Anschein nach Muslime, findet das Wort Gottes kein Gehör. Später berichtet der Mufti, auch Säuglinge seien unter den Geiseln.

Keiner der Schüler sei bei dem Überfall verletzt worden, teilten die Terroristen am Abend nach Angaben des Einsatzstabes mit. Mit großer Unruhe vernehmen die Angehörigen, dass die Führung von Polizei und Inlandsgeheimdienst aus Moskau in Beslan eingetroffen ist. Mit jeder Stunde wächst die Sorge der Familien, dass die Staatsmacht wie bei früheren Geiselnahmen das Gebäude ohne Rücksicht auf Verluste stürmt.

Der russische Präsident Wladimir Putin brach wegen der Geiselkrise seinen Urlaub am Schwarzen Meer ab und kehrte nach Moskau zurück.

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